Unter Piratenflagge: wir segeln zur Schatzinsel mit Visions of Atlantis, Xandria und Ye Banished Privateers
/21.09.2022 Backstage München
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Auf große Fahrt gehen wir gerne, vor allem, wenn dabei nicht nur eine grazile Frauenfront in See sticht, sondern auch noch ein fulminantes Comeback zu bestaunen ist. Leinen los, wie rief schon Captain Blood: all right, ye hearties, follow me!
Im Dreierpack unter einem Flaggschiff reist derzeit ein wilder Tross durch die Gegend: Visions of Atlantis können nach zweijähriger Verschiebung nun endlich ihre neue Scheibe „Pirates“ standesgemäß vorstellen. Und weil man bekanntlich gemeinsam unabänderlich besser fährt, trifft es sich gut, dass die deutsche Symphonic-Institution Xandria endlich wieder am Start ist und zwar noch kein neues Album, aber als Breitseite doch zwei bärenstarke neue Songs abgefeuert hat. Das nehmen wir doch sehr gerne zum Anlass, das Backstage aufzusuchen, nachdem wir uns alle ausgefallenen Termine notiert, dann wieder gestrichen und die nun endlich ausgetragene Ansetzung auch verfolgen wollten - umso mehr, als wir auf einer rauschhaften Privatfestivität gerade am vergangenen Wochenende Frau Klementine wieder in Diensten von Exit Eden zumindest per Video zur Kenntnis nahmen.
Im Backstage ist jede Menge los, eine beachtliche Schlange wartet auf Einlass, worauf sich dann doch zahlreiche Schlachtenbummler auch in der Halle einfinden, wo der Ausritte heute stattfinden wird. Nachdem die Stadt doch durch das größte Volksfest der Welt leicht gedrängt ist, schaffen wir es gerade so zum Auftakt, den um halb 8 die alten Schweden von Ye Banished Privateers machen. Von der Mann- und Fraustärke her wirkt das wie eine wildgewordene Kelly Family, die im Piraten-Look mit Lumpenklamotten, Spitzhüten, zerschlissenem Frack und diversen akustischen Instrumenten über die Bühne fegt und dabei ihre Folk Shanty Akustik Melange namens Pirate Music unters Volk jubelt. Dabei darf so ziemlich jeder und jede mal ans Mikro, während Peter Mollwing als dräuender Blackbeard immer wieder aus dem Hintergrund taucht und ins Mikro schimpft. Stücke wie „High Street“ animieren die stattliche Meute zum fröhlichen Tanz und sogar zur Polonaise (heute nicht Blankenese, sondern Piratese) – man kann nur staunen, wie viel Laune hier schon der vermeintliche Support Act macht, dem im weiten Rund doch einige in standesgemäßer Kluft die Ehre erweisen. Melancholische Balladen können sie auch, so etwa in der traurigen Mär der „Annabel“, die bis nach Georgia muss. So ist das Ganze sehr kurzweilig und fegt nach 30 Minuten schon wieder vorüber. Schick!
Jetzt steigt die Spannung aber doch sichtlich, immerhin hat Marco Heubaum seine Formation Xandria nach einiger Zeit wieder sortiert und runderneuert wieder an den Start gebracht. Die Geschicke des deutschen Symphonieorchesters verfolgen wir ja schon seit einiger Zeit (um nicht zu sagen jahrelang) und bestaunten zuletzt die Ausgabe mit Dianne van Giersbergen am Mikro, die sage und schreibe anno 2016 die heutige Location beehrte. Nach einiger Funkstille meldete man sich im Mai diesen Jahres dann doch ziemlich überraschend mit dem sinnig betitelten „Reborn“ per Song und Video zurück, wobei sich die neue Sangesgrazie Ambre Vourvahis schon einmal wunderbar in Szene setzen konnte. Noch eindrücklicher geriet der zweite Streich „You will never be our God“, bei dem man sich tatkräftige Unterstützung von Primal Fear-Trainingsleiter Ralf Scheepers holte. So sind wir denn durchaus freudig erwartungsvoll, als sich ein blaues Licht über die Bühne senkt, die Herrschaften einmarschieren und auch gleich mit dem nach wie vor neuesten Stück in die Vollen gehen.
Bandcheffe Marco (Haare und Bart doch etwas länger als vormals) zeigt sich zunehmend entzückt über die Reaktion der doch stattliche gefüllten Halle, die neue Instrumentalfraktion mit Gitarrero Robert Klawonn und Tieftöner Tim Schwarz steht wie eine Eins – und am Schlagzeug sitzt in Gestalt von Dimitrios Gatsios zwar nicht Herr Scheepers selbst, aber doch zumindest ein astreiner Lookalike, der es offenkundig an Leibesübungen ebenso wenig mangeln lässt. Aber wir sind ja auch nicht zur Ertüchtigung hier, sondern zum kulturellen Hochgenuss, und der stellt sich unmittelbar ein, als dann auch Frau Ambre herbeispaziert, adrett mit Glitzerhose und einem Schuhwerk, das jedem Alpencross standhalten sollte. Gleich eingangs klärt sich eine Frage, die uns doch beschäftigte: wer genau erledigt beim neuen Song denn das Grunzen? Akustikprofessor Sebbes votierte hier in die richtige Richtung, denn die zierliche Dame steigt mit einem ordentlichen Brunftschrei ins Geschehen ein. Nimm das, Ralf! „You will never be our God“ läuft heftig und gut rein – Xandria auf sehr modernen Pfaden, die wir gerne goutieren. Beim folgenden „Death To The Holy“ zeigt die Holde dann auch ihre ganz eigene Gesangsnote, durchaus weniger opernhaft als ihre Vorgängerin, eher kraftvoll und auch ein wenig...krank. Denn, so informiert sie uns, ist sie heute durchaus angeschlagen, wollte aber nicht absagen und schwingt sich dennoch wacker durchs Set. Das hat man zu honorieren, zumal die Gute im Verlauf des Sets sichtlich zunehmend kämpft. Umso wohlwollender nehmen wir das neue „Reborn“ zur Kenntnis, das alle Xandria-Trademarks enthält: ordentliche Härte, gut eingebauter Bombast und vor allem jede Menge Spielfreude. Mit „Nightfall“ greift man nochmals in die Giersbergen-Ära, die Ambre sich sehr gekonnt in ganz eigenem Stil zu eigen macht, bevor es dann mit „Now And Forever“ in die Klassiker-Ecke (war 2005 auf dem „India“-Album vertreten) geht. Hier herrscht dann erstmals allgemeiner Hüpfalarm, eine furiose Stimmung, die sich bei „Save My Life“ (vom „Salomé“-Album) fortsetzt. Marco selbst wendet sich nun an uns – nach der langen Pause sei es doch ganz wunderbar, endlich wieder beisammen zu sein, was wir gerne bestätigen.
„The Undiscovered Land“ schlägt balladeske Töne an, die Amber trotz Angeschlagenheit wunderbar meistert. Die Vorstellung der Band enthüllt dann bemerkenswertes: offenbar gehört jeder Mitstreiter zur gleichen Großfamilie, die auf den Nachnamen „make some noise“ hört. Again what learned! Jetzt kommen wir in den Genuss eines brandneuen Songs, der dann auch auf dem Album vertreten sein wird, das Anfang kommenden Jahres auf uns losgelassen werden wird: „Ghosts“ drückt ordentlich aufs Gaspedal, Rob Klawonn-Make Some Noise greift ordentlich in die Saiten – und Marco ist plötzlich verschwunden. Als wir uns schon fragen, ob er schnell auf einen Wiesn-Kurzbesuch entwischt ist, springt er mit neuem Sportgerät wieder hervor und mischt wieder mit. Damit ist er auch rechtzeitig zum All Time Classic „Ravenheart“ wieder an Bord, der 2004 den Startschuss zur größeren Bekanntheit der Kombo gab und der auch heute wieder unverwüstlich strahlt. „Valentine“ liefert dann den Schlussakkord, Frau Amber ist zwar sichtlich am Ende der Sangeskräfte, hat aber heldenhaft durchgehalten – wir bringen einen massiven Prospekt aus, während die Kollegen auf der Bühne noch ein wenig den tosenden Applaus genießen. Wunderbar – welcome back, Xandria!
Nun werfen wir einen Blick ins Rund, die Halle ist bevölkert von allerei Freibeutern, und vor allem in der ersten Reihe ist wieder der Symphonic Fanclub vertreten, der sich bei allen Ansetzungen dieser Art lückenlos am Bühnenrand befestigt (der sonst oft benötigte Sekundenkleber ist heute nicht erforderlich, man ist ja zivilisiert). Das Bühnenbild zieren ebenfalls allfällige Piraten-Ausrüstungsgegenstände wie Fässer und standesgemäße Holzkelche – ein Accessoire, das sich ein besonders enthusiastischer Bukanier im Publikum gleich an die (hoffentlich nicht echte) Haken-Hand gebastelt hat -, aber auch diverse Sauna-Tücher werden verteilt (offenbar pflegte man auch auf hoher See die Kunst des Dampfbads, auch wenn das in die Errol Flynn-Filmen kaum Eingang fand). Hei ho, möchte man das schon ausrufen, als sich das Licht senkt, das Intro ertönt und man mit „Master The Hurricane“ in die bunte Freibeuter-Sause einsteigt. Das donnert, ist atmosphärisch und schmissig, aber natürlich warten wir auf die Frontgrazie, die alsbald in wallender Robe und noch übergezogener Kapuze hereinstolziert. Die Kappe fliegt alsbald weg, und unsere Gastgeberin Clémentine Delauney zeigt, dass sie in Sachen Stageacting und Theatralik mittlerweile ganz oben mitspielt. „Körperspannung bis in den Zeh!“, konstatiert Tanzlehrer Sebbes wohlwollend, als es mit „New Dawn“ weiter volle Attacke hagelt.
Das vokalistische Zusammenspiel zwischen Klementine (heute nicht im Auftrag eines bekannten Waschmittels unterwegs) und ihrem männlichen Gegenpart Michele Guaitoli (heute im feschen Dreispitz, dazu später mehr) gelingt furios, wodurch die höchst melodische Symphonic Melange in der Schnittmenge von Nightwish und Edenbridge bestens reinläuft. Frau Delauney schwenkt ihr Beinkleid, schwingt die Mähne und dirigiert die Menge wunderbar gekonnt, die „A Life Of Our Own“ und das treibende „Clocks“ begeistert abfeiert. Ob wir denn bereit seien für eine „Silent Mutiny“, will sie nun wissen – und setzt sich nun auch selbst schmeißt bei diesem Song die Kopfbedeckung des verdutzt dreinschauenden Kollegen Michele, der ab dann im Kopftuch agiert, kurzerhand in die Menge. Wir nehmen das amüsiert zur Kenntnis, wie überhaupt die wohlige Gewissheit, dass wir hier eine Kombo erleben, die noch vor kurzer Zeit das deutsche bürgerlich-öffentlich-rechtliche Publikum verstörte: „ZDF Fernsehgarten!“, ruft Medienforscher Sebbes wiederholt entzückt in Reminiszenz auf eine doch eher bizarre Veranstaltung.
„The Deep And The Dark“ verbreitet düstere Atmosphäre, und auch die „Journey To Remember“ erleben wir definitiv heute Abend. An den Saitengeräten machen Christian Douscha und Herbert Glos eine formidable Figur, als Frau Delauney zu „Heroes Of The Dawn“ die Kopfbedeckung des verdutzt dreinschauenden Kollegen Michele, der ab dann im Kopftuch agiert, kurzerhand in die Menge schmeißt. Eine echte Schelmerei! Beschaulich-balladesk geht man dann bei „Freedom“ zu Werke, bevor wir zum absoluten Höhepunkt schreiten: bei „Melancholy Angel“ wird die allgemeine Hüpfburg wieder eröffnet, bei der auch der letzte Saumselige einfach mitmachen muss. Uns eingeschlossen. Einen Ersatz für den Hut hat Herr Guaitoli mittlerweile auch gefunden: er zersägt diverse Holzstämme, zumindest pantomimisch, während die Fronterin per vorgehaltener Stopp-Hand den Verkehr zu regeln scheint. So sind sie, die Piraten. Kurze Pause, dann kommt man natürlich nochmal zurück und haut mit „Pirates Will Return“ nochmal ein amtliches Brett in die Menge. „We’re gonna need this hat back“, bittet die gute Klementine nun, worauf das Objekt prompt wieder auf die Bühne segelt. Zu „Legion Of The Seas“ zerlegt Schreinermeister Guaitoli nochmal diverse Klafter, Frau Delauney wedelt nochmal den Rock, was das Zeug hält – dann ist diese wunderbare Kaperfahrt im Hafen angelangt. Wir sagen: Mast- und Schotbruch – bis zum nächsten Mal!