Einmal Hände schütteln mit der Hölle: Arch Enemy zerlegen das Zenith – und Behemoth, Carcass und Unto Others helfen mit
/28.10.2022 Zenith München
Der europäische Belagerungszug (so der offizielle Name der Gastspielreise) macht zwar verspätet, aber umso furioser Halt in München: mit der neuen Scheibe „Deceivers“ und einer immer machtvolleren Live-Präsenz zeigen Arch Enemy immer deutlicher, wie man das mit dem Melodic Death Metal so macht. Also: Haare blau angemalt und los geht’s!
Also, irgendwie ist das schon seltsam, um 17:30 war früher ja mal die Kinderstunde zu Ende, Sonntags kam um die Zeit die Sportreportage, aber Abrissbirnenansetzungen fanden da üblicherweise nicht statt. Der Spielplan allerdings kündet von einem durchaus ausgedehnten Vergnügen, die Hauptattraktion soll die Bühne um 21:50 stürmen – „das wird heute nix mit um 11 daheim!“, mutmaßt Fahrplankontrolleur Sebbes, aber darauf wird noch zurückzukommen sein. Wir sind in jedem Falle pünktlich vor Ort, immerhin gehen wir davon aus, dass es wieder die lobenswerte Bändchen-Methode geben wird – wer zuerst kommt, steht zuerst, so war das ja schon wiederholt. Wir laufen also ein, machen kurz Station am Leiberl-Stand (wo man heute dank funktionierender Kontaktlos-Funktion sogar erfolgreich bezahlen kann) – und stellen fest: Pustekuchen Bändchen, wer vorne ist ist halt vorne, lautet die Devise. Gut, dass wir unseren Vorrat an Loktite dabei haben, womit wir uns ordentlich befestigt in Sicherheit wissen (und nachdem Aktivisten diversester Couleur unsere wiederholten Ausführungen hierzu wohl etwas zu ernst genommen haben: das ist nur ein Spaß! Wir kleben uns nicht ernsthaft da fest, das ist nur eine amüsant-metaphorische Umschreibung des unermüdlichen Ausharrens! Bitte nicht zu Hause nachmachen!!).
Sehr pünktlich um 18:15 steigen die Opener Unto Others dann ins Geschehen ein und müssen der frühen Stunde doch Tribut zollen: die Reihen sind noch durchaus überschaubar, als Cheffe
Gabriel Franco und seine zwei Mitstreiter nach einem feschen Disco-Intro die Bühne entern. Die Melange aus Gothic, Metal und Punk läuft sehr ordentlich rein, Meister Franco sieht zwar aus, als ob „uns Yngwie“ Malmsteen einen auf Elvis macht, klingt aber sehr direkt nach Justin Sullivan und seiner New Model Army. Mit reichlich Sisters of Mercy-Attitüde und ein bisschen Killing Joke-Würze, schwingen sich Unto Others (kennen wir von Metallica, Do unto others as they’ve done to you, nennt sich auch goldene Regel, was Du nicht willst das man Dir tu etc…) durchs Set, das mit „Heroin“, „Give Me To The Night“ und „Nightfall“ blitzsauberes Material enthält, bei immer wieder auch Maiden-Harmonien durchschimmern. Damit ein mehr als ordentlicher Auftakt, der allerdings nach exakt 30 Minuten wieder vorbei ist.
Die Organisation läuft wie am Schnürchen, man enthüllt zwei große Kisten, die man bislang für Kühlschränke hätte halten können und die sich nun als Bildschirme entpuppen, auf denen neben einem Testbild mit dem launigen Titel „Carcass TV“ diverse Szenen eingespielt werden, die schon mal auf die Truppe vorbereiten die nun ansteht: Seziermesser raus, Carcass sind am Start! Während wir in Farbe einen Grundkurs Anatomie belegen können, marschiert das legendäre Grindcore/Death-Kommando auf die Bühne – zumindest die aktuelle, neuformierte Ausgabe davon, in der nur noch Basser und Frontgrunzer Jeff Walker aus den Anfängen übrig ist. Schlaghose und Band-Shirt sind das Mittel der Wahl, fast sieht der Gute aus sein eigener Roadie, als man mit „Buried Dreams“ und „Kelly’s Meat Emporium“ mächtig einsteigt. Herr Walker spaziert wiederholt an den vorderen Bühnenrand, stemmt den Bass auf dem Bein ab und grunzt, dass es seine Art hat. Musikalisch gibt’s neben der obligatorischen Vollbedienung auch eine kleine Geschichtsstunde: immerhin stand niemand anders als Michael Amott himself lange Jahre in Diensten dieser Kombo, bevor er die Formation gründete, die heute das Billing anführt. So kann man durchaus erahnen, aus welchen Elementen sich der Arch Enemy-Sound entwickelte, als sich Meister Walker mit „Incarnated Solvent Abuse“ und „Under The Scalpel Blade“ weiter durchs Geschehen metzelt. Immer wieder blitzen im versierten Spiel von Bill Steer die Maiden-inspirierten Harmonien durch, die auch bei den neuen Carcass das „melodic“ zum „Death“ bringen und die das Erfolgsrezept von Herrn Amotts heutiger Arbeitsstätte liefern. Vom Bühnenrand aus schaut Jeff Loomis durchaus interessiert zu – offenkundig möchte er erleben, wo sein Kollege früher mitmischte -, als Walker uns ein Feuerzeug zeigt und die Funktionsfähigkeit vorführt. Im breitesten nordenglischen Akzent kommentiert er nun launig: „We know we’re great – but how about you?“ Wir sind selbstredend ebenso great und sind auch für „The Scythe’s Remorseless Swing“ und „Carneouis Cacoffiny“ mit dabei, worauf es dann ein Ende mit der Schlachterei hat. Puh!
Jetzt scheint es umbautechnisch doch etwas aufwendiger zu werden, Feuilleton-Chef Sebbes bescheinigt der nun anstehenden Kombo denn auch einen „Hang zur Theatralik“, der sich schon darin äußert, dass man die Bühne mit einem riesigen Vorhang verhüllt. Bald ertönen düstere Soundfetzen ganz wie von einem Orchester, das sich einstimmt, dann zerren die Roadies auf ein Kommando den monströsen Vorhang weg – und die Höllenfahrt mit Behemoth rollt los. Im gewohnt drapierten Umfeld mit diversen Symbolen und Schlangenfiguren beschwört Obermeister Adam Michal Darski in seiner Bühnenrolle als Nergal düster dräuend Tod und Teufel, wie können gleich Anfangs mit „Ora Pro Nobis Lucifer“ unsere Lateinkenntnisse auf die Probe stellen, während sich der Black/Death/Orechestral-Soundteppich über uns ergießt. Feuerwerker Sebbes stellt fest, dass aus diversen Kistchen am Bühnenrand, die eben noch praktische Ablagen für die Ausrüstung boten, plötzlich Feuersäulen schießen, die dafür sorgen, dass man in den ersten Reihen für die nahe Zukunft den Saunagang bereits erledigt hat.
Herr Darski scheint durchaus entzückt, „we could go forever!“, ruft er nach dem mächtigen „Conquer All“ aus. Während ich mich ernsthaft Frage, ob der Gitarrero wirklich einer von den Greywölfen ist oder ob Patryk Dominik Sztyber als Seth mit Mähne, Bärtchen und weißer Schminke nur in die gleiche optische Kerbe schlägt. Basser Tomasz „Orion“ Wróblewski taucht fast in die erste Reihe ein, sein Vorgesetzter animiert die Menge nach Kräften – man scheint fast Freude am Geschehen zu haben. Derweil können auch die ersten Crowdsurfer gesichtet werden, bevor uns der Zeremonienmeister zu „Daimonos“ unter dem Motto „Mütze auf“ eine schwarzgemalte Bischofskappe vorführt. „Off To War“ sortiert Herr Darski in den leider allzu aktuellen Bezug (vielleicht ist er ja gar nicht so böse, wie das den Anschein haben soll?), zu „Blow Your Trumpets Gabriel“ schwingt er das Weihrauchschiffchen (das mir als Ministrantenveteranen natürlich bestens bekannt ist) und biegt dann mit „Chant For Eschaton“ auf die Zielgerade. Sichtlich entzückt über die mittlerweile ordentlich angewachsene und mitmischende Menge beschließt der Meister das Geschehen mit einem launigen: „Ich liebe Dich! Hail Satan!“ Da fürchten wir uns doch schon gar nicht mehr so arg.
Nun gibt es auch einen neuen Vorhang zu bestaunen, tiefrot und mit dem bescheidenen Motto „Pure fucking Metal“ geschmückt. Wir sind also bei der richtigen Veranstaltung, danke für den Hinweis, wir schwankten noch bislang. Nach wie vor läuft der Zeitplan absolut akribisch ab, für manch heimische Baustelle wünschte man sich solche Termintreue: um Schlag 21:50 bläst die Hauptattraktion zur Attacke. Jeder, der im Sommer an der Mattscheibe klebte und den Auftritt in Wacken bestaunen konnte, wird bestätigen, dass Arch Enemy derzeit auf der Bühne eine absolute Macht sind, was sie auch heute wieder eindrucksvoll unter Beweis stellen. Schon der Opener „Deceiver, Deceiver“ lässt als Titeltrack der neuen Scheibe (die als massives Backdrop ebenfalls erscheint) keine Wünsche offen. Glasklarer Sound (für das Zenith ein echtes Kunststück, das mag vielleicht in den hinteren Reihen etwas unsauberer klingen, hier vorne lässt sich gar nichts mäkeln), messerscharfes Riffing der Herren Amott und Loomis, ordentliche Basis durch Sharlee D’Angelos Tieftöner, treibende Beats von Daniel Erlandsson – und natürlich die unvergleichliche Grunzkunst der grazilen kleinen Dame mit blauem Schopf. Alissa tänzelt, droht, dräut, springt vom Drumriser und feuert uns ihre unglaublichen Klänge entgegen. Dass sie auch normal sprechen kann, zeigt sich allerdings sogleich: sie begrüßt uns höflich und fügt fast schon säuselnd an: „We are Arch Enemy – and this is – fucking – war!“, worauf sich natürlich ein bretterndes „War Eternal“ anschließt. Mein lieber Herr Bahnhofsvorsteher, hier geht was! Die Durchreiche für die crowdsurfer ist mittlerweile eröffnet, kurz hinter uns öffnet sich ein durchaus epischer Moshpit – die Meute goutiert die Darbietung massivst. Auf der Bühne scheint man vom letzten Umzug noch ein paar Gitterboxen übrig gehabt zu haben, das kennen wir ja schon vom letzten Mal, und auch die Pyroeffekte hat der vorhin noch hier werkelnde Herr Nergal nicht ausgeschaltet. „Ravenous“ hat wieder einmal alles in Grund und Boden, bevor es das mit „In The Eye Of The Storm“ zumindest ins Mid Tempo-Areal mit hohem Melodiefaktor geht.
Das fulminante „House Of Mirrors“ überzeugt wieder auf ganzer Linie, aber als Meister Amott dann das Brecherriff zu „My Apocalypse“ hervorzaubert, schlägt das Pendel wieder Richtung Dampfwalze, bis das Gitarrenduo den melodischen Mittelteil regelrecht zelebriert. Dann geht’s wieder wild auf mit dem Song, zu dem man in Wacken ein töftes Live-Video einzimmerte: „The Watcher“, von Kulturwissenschaftler Sebbes stets als „Der Watscher“ erklärt, brennt die Luft vollends an. Was ein Geschoss! „The Eagle Flies Alone“ kommt da schon fast bedächtig-balladesk daher, mit Alissa in einer weißen Kutte, aber so richtig spannend wird es vokalistisch dann beim „Handshake With Hell“, einer Speedgranate, bei der wir endlich wieder einmal auch Alissas Klargesangskünste bestaunen dürfen, die wir ja schon zu Zeiten ihrer Backing Vocal Dienste bei Kamelot zu schätzen wussten.
Die komplexere und abwechslungsreichere Struktur der Stücke ist ein echtes Highlight der neuen Scheibe, was auch bei diesem Song wieder formidabel funktioniert. Beim „Sunset Over The Empire“ dürfen wir dann mit Michaels Gitarrenmelodie mitsingen, „As The Pages Burn“ wirft die Mischmaschine dann nochmal mit Vollgas an, bevor wir dann mit „Snow Bound“ in den Genuss eines kleinen Instrumentals kommen. Und wie versprochen kommen wir nun nochmals auf die Zeitfrage zu sprechen, die Terminplaner Sebbes eingangs stellte – der Blick auf die Uhr zeigt nämlich, dass wir gerade einmal eine Stunde zu verzeichnen haben, als man mit „Nemesis“ schon gewaltig auf die Ziellinie zusteuert. Wenn es an der ganzen Sause einen einzigen kleinen Beigeschmack gibt, dann ist es die Spielzeit, bei der man mit viel gutem Willen 70 Minuten deklarieren kann. Gerne hätten wir noch einige Nummern mehr erlebt, man denke nur an „Under Black Flags We March“ oder „Blood Stained Cross“. Aber wir wollen mal nicht so sein, so hat es dann in der Form doch noch geklappt mit der Heimkunft gegen 11. Wer hätte das gedacht.