Brennende Bühnen, Sauerstoff und farbige Haare: Arch Enemy, Lacuna Coil und The Haunted zündeln im Backstage
/05.04 2017 Backstage München
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Alissa! Cristina! Und – ähem, naja, der Marco war auch da. Wenn diese geballte Frauen-Power, unterstützt durch ein ordentliches Abriss-Kommando, zum farbenfrohen Freudenfeuer ins Backstage lädt, dann stehen wir nicht nur vor, sondern quasi auf der Bühne. Da grunzt die Maus keinen Faden ab.
„As The Stages Burn“ – unter diesem Motto bereist das melodische Todesflaggschiff von Arch Enemy derzeit die Spielstätten der Welt, sicherlich auch, um die gleichnamige Live-DVD mit einem Mitschnitt aus Wacken zu promoten. Das soll uns recht sein – denn nicht nur laufen die Herrschaften unter der tatkräftigen Mitwirkung ihrer Frontdame zu ungeahnter Popularität auf, nein, im Tross fährt auch noch Frau Scabbia mit: die durften wir zwar vor kurzem erst erleben, aber das ficht uns nicht an, da wir (ganz im Sinne eines unsäglichen elektronischen Tanzliedchens der 80er) natürlich nicht genug bekommen können.
Die Schlange vor dem Backstage ist folgerichtigerweise zu früher Stunde schon beträchtlich, was sicherlich auch daran liegt, dass heute Abend Werk, Halle und Club gleichzeitig Austragungsort verschiedener Ansetzungen sind. Wir orientieren uns sogleich ins geräumige Werk, wo anfangs noch gutes Durchkommen ist (was sich im weiteren Verlauf dann ändern wird). Kaum haben wir Zeit, uns kurz umzuschauen, unseren neuen Stammplatz vorne rechts zu beziehen und uns über die seltsame Pausenmusik zu amüsieren (Elektro-Pop? Hallo?), da springen sehr pünktlich schon die alten Schweden von The Haunted hervor. Gewandet im typischen Thrash-Outfit der alten Schule (enge schwarze Hose, Turnschuhe), zimmert die Instrumentalfraktion mit Patrik Jensen und Ola Englund den thrashig-melodischen Elchtod ordentlich ins Rund. Vortänzer Marco Aro fällt mit kurzer Hose und ebenso kurzen/keinen Haaren etwas aus der Reihe, legt sich aber bei Nummern wie „Bury Your Dead“ oder „Trespass“ mit voller Kraft ins Zeug. „We are The Haunted from Sweden“, informiert uns der Gute jetzt, „and we like to play hard rock“. Nun, dieses Understatement lassen wir mal so stehen (“schöner Klangteppich”, bestätigt Innendekorateur Sebbes gerne), während sich Herr Aro zunehmend volksnah gibt: er steigt direkt auf die Absperrung, lehnt sich in die Leute und begrüßt „the beautiful ladies, and also the ugly men“. „Hollow Ground“ und „Guilt Trip“ rauschen vorbei, aber jetzt will der Chef es wissen: ob denn der Pit auch da sei, erkundigt er sich. Bislang hatte der anscheinend keine Zeit, aber jetzt schaut er dann doch vorbei. Ordentliches Kesselrühren ist zum „Hate Song“ angesagt, und Marco lässt es sich nicht nehmen, dabei auch direkt in der Menge mitzumischen. Händeschüttelnd verabschiedet man sich. Runde Sache, die Herren – Respekt!
Jetzt tritt der Tod persönlich auf den Plan. Nicht direkt, sondern eher ein Mensch in Totenkopf-Kappe, der das Drumset für die nun folgende Attraktion aufbaut. Offenbar wählen Lacuna Coil das gleiche Ambiente wie bei ihrem letzten Besuch in unserem (von anderen Leuten teilweise Strom genannten) Wohnzimmer: getreu dem nach wie vor aktuellen Album versetzt man uns nun für die nächsten 45 Minuten ins kollektive Delirium, inklusive Bemalung und Zwangsjacken-Ästhetik. Von Anfang an überzeugen die Italiener mit beherztem Stage-Acting und nutzen die Dimensionen der Räumlichkeiten voll aus. Los geht die Sause mit „Ultima Ratio“, zu dem Chefgrunzer Andrea Ferro schon mal ordentlich vorlegt, bevor dann Cristina herself ins Geschehen eingreift. In weiße Psychiatrie-Beinkleider gehüllt und ordentlich mit (Kunst)Blut verschmiert, schwingt sich die Holde durchs Programm, das mit „Die And Rise“ und dem folgenden „Trip The Darkness“ weitere Highlights im Ärmel hat, bei denen die Holde einmal schnurstraks auf mich zustürmt und sogar in mich hinein rumpelt, bevor es weiter an die Absperrung geht. Ciao, bella, sagen wir da doch gerne…„Servus München!“, werden wir jetzt begrüßt, und die Schlachtenbummler erwärmen sich zusehends für die Darbietung, zumal nicht wenige ihre Vorliebe für diese Kombo in Leibchen und sonstigen Memorabilia kundtun – aber auch die Arch Enemy-Fraktion goutiert das Material durchaus. Auf das neue Video verweist uns Cristina nun, „it doesn’t matter if we know each other or not – ultimately we are all blood, tears and dust!” Das mag sein, wir bestaunen dabei einmal mehr die Schminkfertigkeit von Basser Marco Coti Zelati, der erneut wie aus dem Spawn-Universum entsprungen scheint, und konstatieren, dass der Skelett-Mann von vorhin wohl Schlagwerker Ryan Blake Folden höchst selbst war.
Die Verbindung von kraftvollem clean-Gesang und gutturalen Tönen harmoniert famos, Cristina schüttelt vehement die kurzen roten Haare, und „Ghost In The Mist“ überzeugt durch ruppige Ausritte und einen hervorragenden Refrain. Jetzt legt Frau Scabbia ihre Jacke ab, zum Vorschein kommt das strumpfartige Oberteil, das wir kennen, und noch mehr (Kunst…wir hoffen es) Blut. Das Schlachtross „Heaven’s A Lie“ gerät zum astreinen Mitsing-Festival, „Our Truth“ rollt tonnenschwer und heavy daher, bevor dann die bekannte Rede zu „Nothing Stands In Our Way“ folgt: man solle niemals in Angst leben, man sei genau da, wo man immer sein wollte. Wir gratulieren und intonieren brav wie gefordert die Textzeile „we fear nothing!“ lauthals mit. „Thank you for entering our sanitarium!“, bedankt sich Frau Scabbia nun höflich bei uns – wer hat an der Uhr gedreht? Das bleibt unklar, Fakt ist, dass das fulminante „House Of Shame“ mit einem fast schon Kunstlied-artigen Zwiegesang den gothisch-düsteren Reigen beendet. Auch wenn das schöne „Delirium“ oder auch „Spellbound“ nicht am Start waren - Cristina, keine Sorge: solange Du in dieser Form zu uns kommst, wird uns in der Tat nicht bange.
Die Pausenmusik schwenkt nun von eigentümlich hin zu eher passend, und auf der eilig bereitgeklebten Setlist sehen wir, dass bei einigen Stücken wohl C02 in irgendeiner Form zum Einsatz kommen wird. Wir sind gespannt, warten ein kleine Weile, während die Bühne nun auf volle Größe ausgerollt wird, bestaunen das beleuchtbare Schlagzeug mit „AE“-Logo – und dann geht es mit einem kleinen Intro im wahrsten Sinne des Wortes dahin. Nach den ersten paar Takten des Openers „Enemy Within“ wissen wir dann ganz genau, was mit der Chemie-Anmerkung gemeint ist: massive Dampfexplosionen schießen da Richtung Publikum, Michael Amott und Jeff Loomis postieren sich rechts und links, und ab geht die wilde Fahrt. Körperliche Maßregelung liegt uns üblicherweise ja fern, geschweige denn Freude an ihr, aber wenn uns die liebe Alissa, die nun ebenfalls hervorspringt, für die nächsten 90 Minuten über ihr zierliches Knie legt, dann lassen wir uns das mehr als gerne gefallen. Längst hat sich das augenscheinlich harmlose Persönchen zum optischen Mittelpunkt des Schwedenkommandos gemausert, mit einer aggressiv-fordernden Bühnenpräsenz, die wie selbstverständlich den Befehl an sich reißt. Gekleidet in eine enge Gummihose, Netzoberteil und silbernen Nieten-Pantoffeln, keift, springt und dräut sie, schüttelt ihre mittlerweile zum Markenzeichen avancierte blaue Mähne und führt beschwingt durchs Programm. Wie immer brillant ist die rasiermesserscharfe Präzision, mit der das Duo Amott und Loomis die Walzwerk-Riffs ebenso herausfeuert wie die melodischen Elemente, die den ureigenen Arch Enemy-Sound genauso prägen wie das fast schon beängstigende Organ der Frau Gluz. Die Menge kennt kein Halten mehr, bildet einen beachtlichen Pit und reicht die Surfer am Fließband nach vorne durch, die dann auch gerne mal auf die beträchtliche Anzahl Fotografen vor der Absperrung niedergehen. „Are you ready to have some fun?“, fragt uns Alissa nun – es scheint so, meine Liebe, ein Blick in den Wurstkessel da unten genügt. „Who remembers an older album called Wages Of Sin?“ Offenbar jeder, denn das nun folgende „Ravenous“ gerät vollends zur gepflegten Abrissbirne, das wieder von CO2 und Konfetti (!) begleitet wird. Was eine rasante Talfahrt, sehr verehrte Damen und Herren!
Wir zeigen uns weiterhin beeindruckt vom schleifenbewehrten Schnalz-Beinkleid der Dame („Ob die ihre Klamotten wohl bei H&M kauft?“, sinniert Haute Couture-Kenner Sebbo, der einem Surfer-Einschlag gerade so entgangen ist) und erfreuen uns am Groovemonster „Stolen Life“, während sich Alisa immer mehr gebärdet wie ein böser Elf aus irgendeinem verdrehten Zauberland. Die Surf-Einlagen werden einstweilen zur Dauererscheinung, was die beiden Security-Kollegen allerdings nicht verdrießt – insgesamt an dieser Stelle ein Lob an diese beiden gut gelaunten und sehr entspannten Herren, die mit den herausgefischten Fliegern höflich umgehen und teilweise sogar noch ein kleines Pläuschchen halten. Top! Man sei gerade im Studio, um das neue Album fertigzustellen, berichtet uns Alissa jetzt, und da sei es doch eine famose Idee, zwischenzeitlich auch mal wieder Live-Atmosphäre zu schnuppern und die dann mitzunehmen – was man nun in Form von „You Will Know My Name“ auch ordentlich tut. Alissa streift dabei eine wunderliche weiße Kapuze über und wirkt wie eine bedrohliche Nonne aus einem Hammer-Horror-Film, aber auch das Publikum lässt sich nicht lumpen: zu „Taking Back My Soul“ setzt es nun eine veritable Wall of Death, in der man auch jüngere Herren mit beträchtlicher Leibesfülle wirbeln sieht. Nach jedem Song verschwindet Alissa kurz hinter der Bühne – etwa, um draußen schnell einen harmlosen Gesellen am Burger-Stand anzuschreien und mit veganen Botschaften zu überziehen? – und springt alsbald wieder hervor. Mit „Under Black Flags We March“ folgt nun auf dem Fuße der aus meiner bescheidenen Sicht beste Moment des Abends – Walzwerk-Rhythmus, fast schon filigrane Melodiearbeit und eine Flagge schwingende Alissa zaubern die Arch Enemy-Zauberformel aufs Parkett. Groß! „Now we will need a bigger pit!“ Ok, manch einer forderte ja schon ein größeres Boot, aber noch mehr Gerammel?
Können Sie haben, Frau Gluz: beim pfeilschnellen „As The Pages Burn“ verwandelt sich das erste Drittel der Halle in ein Tollhaus, in dem Kleinholz gemacht würde, wenn denn Baumstämme verfügbar wären, während die Melodiefraktion erneut brilliert. Meister Amott wirkt dabei entspannt, schüttelt sich die Riffs und Läufe galant zuverlässig aus dem Ärmel aufs Griffbrett seiner Signature Tyrant-Gitarre aus dem Hause Dean, standesgemäß mit Zackenform und Blutschlieren, post bei den Melodieparts gerne am vorderen Bühnenrand mit seinem Kumpel Jeff. Die eigentlich doch so bitterböse Schlumpfine Alissa hingegen gibt sich zwischen den Aggro-Attacken durchaus höflich und erkennt sogar den einen oder anderen Schlachtenbummler: „Is your name Markus? See, I pay attention!“ Kein Zweifel, wir sind hier alle aufmerksam, deshalb verwandeln wir beim Mid Tempo Stampfer “No Gods No Masters” die Halle alle gemeinsam in eine kollektive Hüpfburg. Zu „Dead Bury Their Dead“ packt Alissa dann derartig wüste Grunzer aus, dass Waldläufer Sebbo feststellt, das klinge ja schon fast wie das Röhren eines Elchs in der Brunftzeit (was sich auch famos in einem halbleeren Maßkrug nachstellen lässt). Nach „We Will Rise“ und „Blood On Your Hand“ macht man sich allerdings erst einmal auf nietenbesetzen Socken davon - kurze Pause, die dann mit dem höchst melodischen Instrumental „Snowbound“ unterbrochen wird, bei dem die Gitarristen nochmal ihre ganze Kunstfertigkeit auspacken. Aber nun werden die Sprechchöre dauern erhört: das tonnenschwere „Nemesis“ reißt - natürlich mit gehöriger CO2-Unterstützung - die Zuhörerschaft endgültig in den enthusiasmierten Orkus. Welch ein Orkan! Vehemenz, Brachialität, und dabei immer höchst anspruchsvoll und melodisch. Und die Haare, ja, die waren schön farbig. Bis auf die von Marco, aber wir sehen es ihm nach: immerhin hat er diesbezüglich rein genetisch gar nichts mehr beizutragen.