Könige mitten unter uns: Anthrax sind das Gesetz. Immer noch.
/25.02.2017
Backstage München
„I’m the walking dude!“ Mit dieser markerschütternden Weisheit zementierten Anthrax vor sage und schreibe 30 Jahren ihren Ruf als Institution im Thrash. Das muss gebührend gefeiert werden: mit dem grandiosen letzten Streich „For All Kings“ und der gesamten „Among The Living“-Langspielplatte im Gepäck zerlegen die Herren derzeit die Spielstätten rund um die Welt. Die Frage, ob wir hier dabei sein mussten, erübrigt sich wohl.
Julius-Echter-Gymnasium, irgendwo in Unterfranken, 1987. Ein junger Herr betritt das Kollegstufenzimmer, bestaunt das neue Wandornament und fragt anerkennend: „Wer hat denn die Mosher aufgehängt?“ Da war nämlich Joey Belladonna in vollem Federschmuck zu sehen, inmitten seiner Kollegen, wie sie gerade die Hymne von den Indianern live darbieten. Pioniere waren sie damals und auch lange danach – die ersten, die den Crossover zum Rap wagten („I’m the Man“ war immerhin die B-Seite der „I Am The Law“-Single) und, viel wichtiger, die mit kurzen Skateboard-Hosen auftraten: vollkommen undenkbar in Zeiten des durchgestylten Hair-Metal – 1988 bei Monsters of Rock in Schweinfurt wurden die Shorts sogar als Merchandise feilgeboten, und die deutschen Rabauken von Tankard behaupteten per T-Shirt: „We can’t skate, but we drink!“ Aber auch wenn Alben wie „Persistence Of Time“ Anfang der 90er noch für Anerkennung bei den Kritikern sorgten, fielen auch diese Recken der finsteren Dekade letztendlich zum Opfer und meldeten sich so richtig erst 2003 mit „We’ve Come For You All“ zurück. Seitdem haben sich die Herrschaften um Rauschebart Scott Ian stetig wieder hochgearbeitet – dank wahrhaft berauschender Scheiben, einem immer besser aufgelegten, wieder eingestiegenem Fronter und vor allem unermüdlicher Dauerpräsenz (Vorschlag an Tankard für ein neues Shirt: „Ist da eine Steckdose? Dann warte nur ein wenig, dann spielen Anthrax!“). Auch wenn sie also eigentlich gar keine Tour brauchen, ziehen sie derzeit unter dem Motto„Among the Kings“ durch die Welt – geboten wird dabei eine Mischung aus Stücken, die per online-Voting von den Sympathisanten gewünscht werden durften, plus die klassische „Among The Living“-Scheibe in voller glorioser Länge.
Das zieht doch jede Menge Schlachtenbummler ins Backstage Werk, das sich allerdings erst nach und nach füllt, so dass die Briten von The Raven Age mit noch ein wenig lichten Reihen konfrontiert sind. Den Namen kennen wir aber doch – richtig, und zwar von den Ankündigungen der derzeit auf Hochtouren laufenden Book Of Souls-Reise von Iron Maiden, wo man auch als Support gebucht ist. Ganz schädlich ist es im Musik-Business eben doch nicht, wenn man George Harris heißt und der Sohnemann von Maiden-Basser Stevo himself ist. Mr Harris jr. bedient in Shirt nebst umgedrehter Baseballmütze allerdings zwei Saiten mehr als der Herr Vater: nach einem langsamen, getragenen, sehr melodischen Intro steigen die Londoner mit „Uprising“ in ihr Set ein, das dann ebenso sehr melodisch weitergeht. Die Klassifizierung als Metalcore unterstützen wir eher so überhaupt gar nicht: vielmehr wirkt das teilweise wie angerockter Britpop, was die Mannen da fabrizieren. Shouter Tony Maue, der erst seit 2016 in Diensten steht, bringt dabei neben einem fantasievollen Haarschopf eine streckenweise etwas dünne Vokalleistung, die allerdings von den durchaus gefälligen Kompositionen glattgebügelt wird, die vereinzelt an Linkin Park und Konsorten erinnert. Das etwas schnellere „Eye Among The Blind“ kommt da noch am besten rüber, während die aktuelle Single „Salem’s Fate“ (auch in den einschlägigen Du-Röhre-Kanälen als Video zu bestaunen) für Küchenprofi Sebbes eher weniger trefflich klingt, der sich dabei an einen mit Steinen gefüllten Mixer gemahnt fühlt. Na, so übel ist es doch gar nicht, mit „Angel In Disgrace“ verabschieden sich die Mannen dann nach einer dreiviertel Stunde auch schon wieder von uns, und wir stellen fest, dass die kompositorische Qualität durchaus besser ist als die Live-Präsenz – aber dazu haben sie ja noch genügend Zeit, und wir können das Ende April nochmals überprüfen. Dann spielen sie wieder vor Harris sen.
Jetzt wird es dann doch allmählich voller, wir wundern uns über das Publikum, das deutlich jünger ist als vermutet und auch überraschend viel holde Weiblichkeit beinhaltet, die beim Thrash seinerzeit ja einen Anteil von relativ genau Null Prozent ausmachte. Populär scheinen sie in der Tat wieder zu sein, auch bei den ebenso anzutreffenden älteren Semestern, die allerdings kaum explodiert und abgebrannt aussehen, sondern fast ausnahmslos aufgeräumt und gut situiert – am Montag sitzen die wieder alle im Büro oder in der Amtsstube (wir ja auch, das ist nicht schändlich), aber heute Abend wird gemosht. Der Bühnenaufbau nutzt die Dimensionen der Räumlichkeit kaum aus („die sind nicht mehr so fit, die können nicht mehr so viel laufen!“, erklärt Altersforscher Sebbes kenntnisreich), das Schlagzeug thront erhöht und geschmückt mit einem „For All Kings“-Schriftzug. Ebenso deutlich drapiert sind diverse Dosen eines zweitklassigen Energy-Drinks – kurios, für was man alles Promotion-Aufträge ergattern kann, aber sei’s drum. Schlag 20.45 heißt es dann Licht aus, Spot an: von der Konserve kommt als Intro „Impaled“, dann gibt es kein Halten mehr. Und zwar wörtlich. Denn mit den ersten Takten des alten Reißers „A.I.R.“ offenbaren die Angereisten vor der Bühne, dass man heute anscheinend den ernsthaften Versuch unternehmen möchte, die Halle zu demontieren. Der Innenraum gleicht einer Waschmaschine im Schleudergang, so beherzt geht es im Moshpit zur Sache, in dem sich auch eben jene Herrschaften tummeln, die wir eben noch als respektable Bürogänger klassifiziert hatten. Fett! Auf der Bühne steht man der Bewegungsfreude dabei in nichts nach: „the Frank“ Bello führt seinen Derwisch-Tanz auf, wie wir ihn kennen, Charlie verdrischt die Felle nach allen Regeln der Thrash-Kunst, und Scott Ian (Haare – schon lange keine mehr, Hose – immer noch kurz, als einziger!) greift so beherzt in die Saiten, dass er mitten im Lied die Gitarre wechseln muss.
Und dann hüpft der Springteufel des Abends hervor: Joey Belladonna mag zwar aussehen, als ob er regelmäßig unter der Sonnenbank nächtigt – an seiner Stimmgewalt und vor allem seinem Aktionsradius gibt es kein Deuteln. Ohne Pause geht es weiter mit einem mächtigen „Madhouse“, das die Zustände in der Halle durchaus treffend beschreibt. Scott Ian zeigt einstweilen bei „Evil Twin“, wie Riffing der alten Schule auszusehen hat: messerscharf, präzise, auf den Punkt. „Der spielt wie ein Uhrwerk!“, kommentiert Wahlschweizer Sebbo, während Joey sich nun auch einmal kurz an uns wendet: man freue sich hier zu sein, in München habe man über die Jahre schon viele Feste gefeiert. Obwohl das an jeder Spielstätte ähnlich aufgesagt werden dürfte, gereicht es doch zur Freude, zumal sich die Herrschaften im Laufe des Abends durchaus publikumsnah geben: Übungsleiter Joey schneidet lustige Grimassen, sucht den Blickkontakt, klatscht mit den vorderen Reihen ab (sogar seitlich hinter der Bühne, wenn er mal kurz pausiert) und reicht schließlich ein Plektrum direkt an einen Schlachtenbummler, der auf dem Flugweg partout keines zu erhaschen vermag. Das epische „Blood Eagle Wings“ beweist, wie Anthrax ihren Stil über die Jahre verfeinert haben: anstelle des permanenten Stakkatos, das auf „State Of Euphoria“ streckenweise ermüdend wirkte, kredenzen sie mit diesem neuen Stück eine pechschwarze Ballade voller finsterer Melodie. Wunderbar und von Scott sichtlich mit Herz vorgetragen. Herausragend. An der Schuhfront können wir heute zwar nichts Witziges vermelden (ordentliche Turnschuhe sind das Mittel der Wahl), aber mit einem schmackigen „Welcome to the album Worship Music!“ treten sie mit „Fight ‘Em Till You Can’t“ das Gaspedal wieder massiv durch. „Jetzt kommt der Brathering! Was ein Song!“, freut sich nun Fischhändler Sebbo, und in der Tat kracht „Breathing Lightning“, die erste Single des „Kings“-Albums, ganz gewaltig und mitreißend ins Kontor.
Die schwere Auftaktmelodie von „Be All, End All“ spielt uns Scott dann bewusst langsam und heavy – Mitsingalarm allenthalben, als diese Nummer dann hereinbricht und den ersten Teil des Abends beschließt. „We’ll be right back!“, sichert uns Herr Belladonna zu, und Scott macht grinsend deutlich, was bevorsteht: „Get ready, motherfuckers!“ Während ich einem wirren Menschen tatsächlich weismachen kann, dass es das jetzt war (was ich dann natürlich doch auflöse, das wäre ja unfair, wenn der jetzt heimgeht), wird die Bühne ein wenig umgestaltet, mit Treppen bestückt (wieder eine Showbühne! Das hatten wir ja erst bei Amberian Dawn!) – und dann macht man sich an einen zweiten Soundcheck, was die Pause dann doch etwas in die Länge zieht. Während wir noch verschiedene Theorien aufstellen, was in aller Welt die Kollegen denn nur treiben (Sauerstoffzelt? Mittagsschläfchen? Schlange stehen am Burgerstand draußen vor der Halle, damit Joey nicht noch mehr vom Fleische fällt?), macht sich leichter Unmut breit – „das Volk langweilt sich!“, stellt Demoskop Sebbo fest, aber dann geht es endlich in die zweite Runde. Die Bühne wird in rotes Licht getaucht, das unheilsdräuende Intro kommt von der Konserve, Mr Benante steigt wieder in sein Arbeitsgerät ein – so fällt der Startschuss für die furiose Reise in die Thrash-Geschichte, die in komplett rostfreiem Glanz strahlt. „Among The Living“ reißt immer noch alles nieder, der Titeltrack knallt wie die sprichwörtliche Wutz, und im Pit geht spätestens nun die Post per Express ab. „The walking dude“, ja, den macht Scott heute vor, der im Kreis über die Bühne watschelt, während Joey den Federschmuck gegen eine schwarze Wollmütze ausgetauscht hat (ist ja immer noch Februar, nicht wahr!) und noch ausgelassener wirkt als in Abteilung 1. Die Treppen kommen dabei permanent zum Einsatz, entweder springt der Derwisch namens Bello hinauf oder Mr Ian platziert sich vor dem Drumset – wunderbar. Bei dem nun standesgemäß folgenden „Caught In A Mosh“ ticken die Schlachtenbummler endgültig aus, zu rasend ist die Basslinie, zu der Frank Bello den Wahnsinn in Person mimt. Das ist die Essenz von Anthrax: schnell, brachial und trotzdem mit unentrinnbarem Mitsing-Faktor.
„One World“ liefert dann einen der zwei schwächeren Songs des Albums, aber dann folgt ihr vielleicht bekanntester Streich: Judge Dredd rult auch heute unverändert, mir schießen Bilder des Leibchens in den Kopf, das ein Mitstreiter aus Protest gegen einen Sonderdienst bei der Armee (da mussten wir damals noch hin, jaja) trug, aber viel Gelegenheit zum Nachdenken bleibt nicht: „I Am The Law“ zerlegt die Halle förmlich, vom Monsterriff über den Mosh-Teil in der Mitte bis zum Ende. Kolossal. „Fuck yeah, Bavaria!!“ Das kann man wohl so sagen, Herr Ian, in der Tat. „If you asked me in 1987 what my favorite song was on the album, I would have said this one – because it is relentless and never stops“, so kündigt Scott jetzt die Nummer “A Skeleton In The Closet” an – und wir müssen wieder zustimmen: shredding at its best, da gibt es keinen Zweifel bei dieser Nummer, mit der sie wieder einmal ihrem Held Stephen King huldigen (wie auch beim Titeltrack und später mit “Misery Loves Company”). Da lässt sich der gute Joey die Butter dann doch nicht vom Brot nehmen: ganz ohne Begleitung singt er im Anschluss lang gezogen los: „Wasting your life…no future bright…“ Auch ohne Setlist ist klar, was jetzt im Anmarsch ist: das krass ballernde „N.F.L.“, mit dem sie ihren genialen, hintergründigen Humor unter Beweis stellten, mit dem sie ihre musikalische Brachialität gerne würzten. „Efilnikufesin!“, rufen wir da doch freudig mit, das verstand damals schon keiner, in dem genannten Kollegstufenzimmer, dabei ist es doch so klar – „nice fuckin life!!“ (Kenner denken an dieser Stelle an die Live-Aufzeichnung „Oidivnikufesin“, und das löse man jetzt selber auf). Humorig geht es weiter, als Joey dann einem durstigen Menschen nicht etwa ein Bier in den gereichten Becher füllt, sondern doch tatsächlich die Energy-Plörre ausschenken will – aber die Dose irgendwie streikt und von einem Helferlein hinter der Bühne geöffnet werden muss. Nach einer kleinen und unnötigen Soloeinlage vom einzigen Nicht-Original-Mitglied Jonathan Donais liefert dann „A.D.I./Horror Of It All“ die zweite nicht brillante Nummer des Albums, bevor dann mit Geheule und Kriegstrommeln das wunderbare „Indians“ abgefeiert wird, als gäbe es kein Morgen – inklusive einem so massiven War Dance, dass einem fast schon Bange wird. Aber nur fast…Womit sich dann Scott wieder an uns wendet: “If you have paid attention, you know there is one song left. We wrote this one in 1986, when we had an actor as president and thought that was a little strange. Well, this seems quite harmless in comparison to what is happening today…” Damit verstehen wir also auch den Hintergrund zu “Imitation Of Life”, das die Darbietung des Klassikers nun furios komplettiert. Wir stehen noch mit einigermaßen offenem Mund da – wir haben hier immerhin gerade Material erlebt, das 30 Jahre alt ist, von Herren, die auch keine Frühlingszwiebeln mehr sind – aber eine Frische und Spielfreude an den Tag legen, von der sich manche junge Kombo mehr als nur eine Brotscheibe entleihen könnte. Einmal preschen sie noch vor, natürlich macht der alte Scheunenstürmer „Antisocial“ den Abschluss, und das funktioniert wie stets (wie damals in Schweinfurt) als Mitsingfest ganz famos. Wir sind berauscht – sie können es also immer noch. Ach was, besser als jemals. Not-Man und Captain Thrash waren da, und sie haben abgeräumt. Königlich. Wir sagen: drokk it.