Eine Studie in Scharlachrot: wir feiern Geburtstag mit W.A.S.P.
/22.11.2017 Backstage München
25 Jahre The Crimon Idol! Der Meilenstein, der bis heute zu Recht als Sternstunde von Blackie Lawless gilt, klingt heute noch so frisch wie 1992. Und das Jubiläum nutzt der Meister natürlich zu einer Ehrenrunde, auf der er uns das gesamte Werk multimedial vorstellt – plus ein Dessert aus weiteren Schlagern. Da ist es eigentlich keine Frage, dass wir dabei sind…oder?
„The Crimson Idol“ landete 1992 wie der sprichwörtliche Paukenschlag: schon auf dem Vorgänger „The Headless Children“ hatte der ewige Rabauke Blackie, der bislang mit doch eher ruppiger Attitüde von sich reden machte, mit ausgefeilteren Kompositionen und vor allem nachdenklichen Texten überrascht. Aber auf dieser Scheibe standen neben den gewagteren Ausritten eben immer noch auch die üblichen Assi-Attacken wie der „Mean Man“. Mit dem dann folgenden Werk wagte der gute Blackie dann den großen Wurf: er eiferte seinem erklärten Vorbild Pete Townsend nach und schuf eine kleine Rock-Oper, voll mit musikalischen Juwelen, wiederkehrenden Leitmotiven und einer Story, die vielleicht nicht radikal neu ist (von seiner Familie entfremdeter junger Typ wird Rockstar und scheitert letztendlich an seinem Ruhm und der Industrie), aber im Gegensatz zu der verkopft-pompösen Sozialkundelehrer-Variation „The Wall“ massiv rockte. Die Platte geriet zu seinem größten Erfolg, selbst Kritiker mussten die Qualität und gedankliche Tiefe zugestehen, und auch wenn der Herr später wieder etwas räudiger wurde, kehrte man doch immer gerne zu Teilen des Glanzstücks zurück.
Schon das 15. Jubiläum feierte man im Hause Lawless 2007 mit einer Tour, auf der das Album komplett durchgespielt wurde, begleitet von einem 1992 produzierten, seinerzeit nie gezeigten Spielfilm, der das Schicksal des Protagonisten Jonathan Aaron Steele Stück für Stück illustrierte. Der zwanzigste Jahrestag fiel dann aus – immerhin war man 2012 schon unter dem Motto „30 Years Of Thunder“ jubilarisch unterwegs, man kommt ja schon ganz durcheinander. Somit stand 2017 der nächste runde Geburtstag an, den Blackie mit einer Neuausgabe des Albums begeht, die unter dem Titel „ReIdolized: The Soundtrack to The Crimson Idol“ für Anfang 2018 angekündigt ist und erstmals nicht nur vier unveröffentlichte Songs, sondern auch den insgesamt 60minütigen Film als Blaustrahl enthalten soll. Zuerst aber kredenzt er uns die gleichnamige „ReIdolized“-Tour, die wir selbstverständlich gerne in Wort und Bild festhalten. Würden. Denn offenbar hat man im Hause Lawless eine etwas eigentümliche Idee von PR: kurz vor der Ansetzung wurden mehr oder weniger alle Presseakkreditierungen und Fotopässe gestrichen – gerade einmal zwei, wahrscheinlich vom Chef handverlesene Fotografen tummeln sich später vorne, weshalb wir unserer geschätzten Leserschaft leider nicht die gewohnte Bildqualität bieten können. Aber sei’s drum, wir wollen der Inszenierung in jedem Falle beiwohnen und lassen uns davon nicht verdrießen.
Als wir ins Backstage einlaufen, ist das Werk schon gut gefüllt und die Bühne mit dem W.A.S.P.-Aufbau inklusive Drumkit und Videoleinwänden drapiert – die eigentlich als Support angeheuerten Beast in Black (immerhin die neue Kombo des ex-Battle Beast-Masterminds Anton Kabanen) fühlten sich auf der Tour schlecht behandelt und sind daher vom Tross abgesprungen, weshalb wir direkt ins Hauptgeschehen einsteigen. Vorher betrachten wir noch schnell das Publikum und notieren eine überdurchschnittliche hohe Quote von Kuttenträgern, die ihr Gewand aus den späten 80ern herübergerettet haben – und sogar ein „Super Rock 1992“-Shirt machen wir aus, das bei der damaligen „Monsters Of Rock“-Variante in Mannheim zu erwerben war, als W.A.S.P. ebenfalls auf dem Billing standen und erstmals Idol-Songs darboten. Licht aus, Leinwände an, ein schmucker, offenbar neu produzierter Vorspann (Executive Producer: Blackie Lawless) läutet den Filmabend ein, komplett mit Voiceover, der mit „My name is Jonathan Aaron Steele“ beginnt und aus Sicht des gequälten Protagonisten durchs Programm führt. Zu „The Titanic Overture“ versammelt sich dann die Mannschaftsaufstellung, seit Jahren stabil mit notorischem Oberkörper-Vorzeiger Doug Blair an der Gitarre und Mike Duda am Bass, der immer mehr aussieht wie der Zwillingsbruder von Richard Hammond, der derzeit im Amazonas-TV auf Grand Tour geht.
Der Meister selbst spaziert locker herbei und schaut erst einmal eine ganze Weile den Schlagwerker an, was er im Verlauf des Abends gerne praktiziert, bis er sich zu uns wendet und die ersten Gesangslinien intoniert. In Schnalzhose, W.A.S.P.-Shirt (geht eigentlich überhaupt nicht, niemals das eigene Band-Leibchen tragen!) und dem gewohnt kuriosen Trandelfransen-Stiefelwerk steht er da, dräut in die Menge und sieht dabei nicht gerade wie das blühende Leben aus. Aber nun ja, der Mann ist jenseits der 60 und hat so einiges erlebt, immerhin. Der Sound kommt ordentlich daher, das Schlagzeug wirkt ein wenig zu laut, aber die stimmlichen Klippen meistert der Chef durchaus achtbar. Die Ich-bin-ein-entfremdeter-Jugendlicher-Hymne „The Invisible Boy“ mit dem meisterlichen Kehrreim „I am the boy only the mirror sees“ knallt ordentlich, wobei wir beim Refrain erstmals eine leichte akustische „Unterstützung“ vermerken – ja, bisweilen hilft man ein wenig nach, das wollen wir nicht in Abrede stellen, vor allem die bombastischen Refrains wirken ein wenig zu perfekt. Wir freuen uns dennoch an der Klasse des Songs, die Menge ist verzückt, und es schließt sich wieder – so ist es das Prinzip des ganzen Konzeptes – eine kleine Pause an, in der der Erzähler die Puzzleteile zusammenfügt: jetzt also Jonathans Weg in die große Stadt, in die „Arena of Pleasure“, die wir im Film eindeutig nicht als L.A., sondern als London ausmachen. Jetzt freuen wir uns sogleich auf das erste echte Highlight – immerhin dürfte der „Chainsaw Charlie“, diese Abrechnung mit den Granden der Musikindustrie, mit zu den Glanztaten selbst innerhalb des Albums zählen. Der Sound fackelt alles ab, keine Frage, aber hier kommt Blackie nun stimmlich durchaus an Grenzen, und dass seine beiden Mitstreiter so vokalgewaltig sind, wie das den Anschein haben soll, daran machen wir ein frommes kleines Fragezeichen. Puh, wenn das in der Richtung weitergeht…aber nein, gerade im eher getragenen „The Gypsy Meets The Boy“ zieht sich der Chef dann wieder bestens aus der stimmlichen Affaire und singt durchaus gefühvoll und treffend. Und vor allem live. So wird sich das durchziehen – die ruhigeren Passagen meistert er wunderbar, in der großen Oper ist manchmal Hilfe am Start. Lassen wir mal gelten, mit kleinem Abzug in der Haltungsnote. Schnell nach vorne prescht dann der „Doctor Rockter“, der Jonathan in die Fänge der Drogen sendet, bei „I Am One“ funktioniert die Chose mit wechselweiser hellen Beleuchtung des Publikums hervorragend. Das auch zu anderen Anlässen gerne gespielte, halb balladeske „The Idol“ gerät dann zu einem Glanzlicht, das Leitmotiv „Where’s the love to shelter me“ strahlt dabei unverändert in hellstem Schein, und auch Fitnesstrainer Blair brilliert wie gewohnt mit einer ausladenden Soloeinlage. Wieder Licht aus, kurze Erzählung, woran sich dann die ebenfalls zauberhafte Ballade „Hold On To My Heart“ anschließt – man hatte fast vergessen, welche Perlen sich auf Seite 2 der LP (ja, liebe Kinder, die Dinger musste man umdrehen!) versteckt halten. Und schon biegen wir auf die Zielgerade – die Stimme Jonathans berichtet unheilsvoll: „I had made it to the top of the mountain. But up there, I found nothing.“ Mit ganzer komplexer Brachialität bricht das abschließende „The Great Misconceptions Of Me“ über uns herein, mit allen musikalischen zentralen Motiven, die variiert und wieder aufgenommen werden, bis sich unser Antiheld an seinen eigenen Gitarrensaiten erhängt, aufs Bett fällt und dort wie auf dem Cover des Albums verharrt. „Jonathan lives here – still!“, künden die Leinwände. Aus. Schnelles Fazit - musikalisch: groß, unverwüstlich, eine Sternstunde, fürwahr. Darbietung: instrumental einwandfrei, gesanglich altersgerecht. Kommunikation: null. Blackie war ja nie der große Impresario, aber wir haben nun fast 80 Minuten ohne jede Publikumsansprache hinter uns – gewissermaßen ein Anti-Tobias Sammett. Kann man so machen - muss man nicht.
Aber es gibt ja noch Nachtisch: nach einem kleinen Medley springen sie wieder hervor, und jetzt ruft er tatsächlich etwas, das irgendwie klingt wie „Deutschland are you ready“. Sind wir, zweifelsohne, vor allem für die „L.O.V.E. Machine“, die mit eingespieltem alten Original-Video zum einen den Kontrast zwischen dem gerade gehörten und dem restlichen Kanon verdeutlicht, das aber auch zu noch heftigeren Publikumsreaktionen führt. Blackie erscheint endlich auch einmal nicht nur in rotem oder blauem Licht, sondern auch mal hell erleuchtet – er sah schon schlechter, aber auch schon besser aus. Egal, wir sind hier ja nicht bei Heidi Klum, sondern feiern gerne das Lied vom Eimer ab, das er als „Wild Child“ mit Gusto herausfeuert. Etwas überraschend nun der Titeltrack des nach wie vor aktuellen Albums „Golgotha“ (mit ausführlicher Ansage: „This – is – Golgouuthaaa!“), das musikalisch passt, aber gesanglich deutliche Schützenhilfe bekommt. Dann sing doch lieber einen der alten Reißer, Mann…stattdessen blickt er am Ende gen Bühnendecke und spricht scheinbar mit sich selbst oder irgendeinem Wesen, das nur für ihn sichtbar ist (keine Angst, macht er immer, insofern keine Gefahr). Jetzt wischt er sich mit einem Handtuch über Haarmähne und Gesicht, schleudert es in die Menge – und wir sind heilfroh, nicht von diesem Geschoss getroffen worden zu sein. „It seems you do not want to go home!“, kommt der dritte (!) Satz an diesem Abend, und wir kommen noch in den Genuss des alten Scheunenstürmers “I Wanna Be Somebody”, dessen Refrain Blackie komplett der Meute überlässt. Schluss, aus, man verabschiedet sich wortlos und ist auf und davon.
So. Was sagt man dazu? Musikalisch natürlich aller erster Kajüte, deshalb waren wir da. Spieldauer (bei ihm oft ein Manko) mit fast 100 Minuten vollkommen in Ordnung. Aber doch der Eindruck, das ist eine Pflicht, die halt abgespult wird, um die Neuauflage der Scheibe zu promoten. Was könnte er für Geschichten erzählen, wenn er wollte, über Hintergrund und Entstehung dieses Schlüsselwerks – aber offenbar möchte der Herr das nicht. Wir werden ihn nicht mehr ändern, dafür ist er zu alt. Und wir mittlerweile auch. Wir sehen uns in fünf Jahren, zum 30.
Also, Blackie, jetzt müssen wir mal aber wirklich ein ernstes Wörtchen reden. Da kredenzt Du uns nach sechs Jahren wieder mal ein herausragendes Studiowerk, an Deine letzten Live-Ausritte erinnern wir uns gerne...