Andere kölsche Leeder, unterm Zeltdach gerockt: Niedeckens BAP spielt in Bayern auf
/17.07.2016
Tollwood Festival
Das muss ein Fehler sein. Aber das steht da auf dem Plakat mit dem Fahndungsfoto: 1976-2016. Das wären ja 40 Jahre. Ist das wirklich alles schon so verdamp lang her? Vier Dekaden begleitet er uns jetzt also tatsächlich schon, der Herr Niedecken, rockt immer noch andere kölsche Leeeder, und ist dabei immer das Aushängeschild der deutschen Rock/Liedermacherszene geblieben, trotz allem, was da kam (und ging). Jraduss, wie er das ja in einem Lied selbst sagt. 2014 besuchte er unsere schöne Stadt schon auf einer Wohnzimmer-Akustik-Tournee, aber hier und heute gilt das Motto: Niedeckens BAP auf Lebenslänglich-Gastspielreise, in voller Besetzung und Akustik. Das geht natürlich nicht ohne uns!
Die Musik-Arena auf dem staubigen Tollwood-Gelände ist heute, im Gegensatz zum letzten Auftritt der Kölner Veteranen, nicht bestuhlt – zu viele Tickets gingen im Vorverkauf über den Tresen, und kurz nach Einlass drängt es sich vor der Bühne schon dicht an dicht. Dort wartet schon ein Aufbau reif für eine Big Band, mit Cello, Posaune, Vintage-Hammondorgel und vielen anderen wunderlichen Gerätschaften. Der fast schon etatmäßige Hitzestau ist natürlich auch wieder am Start, Geothermie wäre hier das Gebot der Stunde, einfach abzapfen und die Stadt damit heizen, würde ja auch zum Öko-Image des Events passen. Aber egal, wir sind ja vorbereitet, und nach einer Ansage einer Bayern 1-Grazie (wir sollen am Montag einschalten. Machen wir, versprochen, ganz bestimmt) spaziert die Kombo in ganzer Mann-, Maus- und Fraustärke auf die Bühne. Ohne viel Federlesens steigen sie ein, der Meister selbst schlendert locker in die Mitte, und mit „Frau ich freu mich“ kommt gleich einer der goldenen Klassiker vom „Für Usszeschnigge“-Album von 1981 an die Reihe. Herr Niedecken präsentiert sich bestens aufgelegt, freut sich offenkundig über die volle Hütte und kommentiert die Temperatur launig: „Abend! Jetzt könnt ihr die Heizung wieder runterdrehen. Oder einen Aufguss machen, das würde auch passen“. Stimmt, die Sache ist einmal mehr schweißtreibend, aber das tut der Begeisterung der Menge in keinster Weise Abbruch. Die ist interessanterweise bunt gescheckt, irgendwie komplett unauffälliger Durchschnitt – das frühere Protestpublikum ist wohl mittlerweile geschlossen als Sozialkundelehrer in die Bürgerlichkeit eingerückt. Das sollen sie auch, hier geht es sowieso nicht mehr um die frühere Attitüde, sondern einfach nur um hervorragende Songs in bester Darreichungsform.
Und gerade deshalb macht die Anti-Selbstgerechtigkeits-Hymne „Ne schöne Jroos“ so viel Spaß, und ich stelle wieder einmal fest, dass da hinten ja tatsächlich Anne von ehemals Rosenstolz-Ehren tätig ist, wunderbar singt und so ziemlich alle Instrumente spielt, die man sich träumen kann. Der Text wird einstweilen mit Referenzen auf GPS und social media sanft aktualisiert, bevor uns der conferencier erklärt, um was es heute geht: man wolle keine greatest hits-Show liefern, viele ihrer Stücke waren ja keine Hits, und auch ein best of könne doch niemand entscheiden – aber „die beliebtesten Lieder“, darüber habe man sich verständigen können, auch wenn das ein wenig ungelenk klingt, und so heißt dann ja auch die compilation, die zum 40. Jubiläum erschien. Na, dann schauen wir mal, was in diesem Reigen sonst noch so auf uns wartet. Herr Niedecken trägt entspannt eine Bob Dylan (wahlweise auch genannt Frankfurter Äppelwoi)-Kappe, parliert sehr verbindlich und hat sich zu einem richtigen gentleman, einem elder statesman des deutschen Rocks entwickelt – man spürt, dass er nach schwerer Krankheit einfach froh ist, noch unter uns zu sein, und spricht gerne über seine „Altersmilde“ und darüber, dass auch Düsseldorf als Stadt ok ist. Jetzt kommt man dann aber eben doch zu einem Charthit, wozu es eine lustige Geschichte gibt, denn das Stück spielte man damals sogar in "Wetten Dass…?", zu allem Überfluss in der Show, in die undercover der berühmt-berüchtigte Buntstift-Schmecker eingeschleust wurde, um zu enthüllen, dass man bei den Wetten bestens schummeln konnte: „Ich weiß das noch genau, Thomas Gottschalk kam nach dem Song auf uns zu und hat sich dann selbst interviewt.“ Gemeint ist die Ballade vom enttäuschten Leben „Fortsetzung folgt“, mit dem man seinerzeit in der Tat auch in die Hitparaden stürmte. Bei „Ab und Zu“ setzt es dann Reggae-Vibes, bevor Herr Niedecken wiederholt feststellt, wie verrückt es sei, dass man über die Kölner Stadtgrenzen hinaus seine Texte verstehe, geschweige denn mitsingen könne (mein Herr, das liegt an den Textbeilagen, die wir seinerzeit akribisch studierten, weil wir wissen wollten, was Du da singst. Inhaltlich hat uns das dann aber immer noch überfordert bisweilen).
Früher habe es eigentlich nur Autogramm-Jäger gegeben, führt er nun aus, heute geht es immer mehr um Selfies, bei denen man entweder grade doof schaut oder sich nicht unterhalten kann. Am schlimmsten aber, sagt er, seien die, die nach dem Selfie grade noch sagen, früher sei man politischer gewesen, und abzischen. Das, ja das seien die digitalen Wiedergänger des Müsli-Mähns, eben der Ideologie-Bigotten, die er mit dem neuen „Vollkasko-Desperado“ abkanzelt. Witziger Text, musikalisch leider nicht gerade ein Glanzlicht, aber sei’s drum. Mit einem durchaus großen Block kommt das neue Album „Lebenslänglich“ auch im weiteren Verlauf zu Ehren, im Internet habe man abstimmen können, welche Songs an den Start gehen. Darunter sind schöne Momente, wie das autobiografische „Alles relativ“ oder auch das bedächtige „Absurdistan“ (auf Hochdeutsch, weil ihm Kölsch da albern vorgekommen wäre!). Insgesamt aber geht die Stimmung doch um einige Pegel nach unten, was sich dann beim Rock’n’Roller „Diego Paz wor nüngzehn“ und der Köln-Hymne „Unger Krahnebäume“ (gemeint ist eine gleichnamige Gasse) wieder bessert und bei der begeistert mitgefeierten Uralt-Nummer „Jraduss“ die Anfangshöhe erreicht.
Herr Niedecken zeigt sich entzückt, stellt fest „und irgendwann hast du dann mal einen Schlagzeuger, der älter ist als Verdamp lang her“ und kündigt an, man würde jetzt ein paar Liebeslieder im Sitzen anstimmen, wenn schon der Saal nicht bestuhlt sei ("Ihr wolltet ja stehen!"). Wir erfahren, dass das erste Bap-Lied überhaupt aus dem gescheiterten Versuch entstand, eine Crosby Stills Nash & Young-Nummer nachzuspielen – heute erleben wir „Cowgirl in the sand“ und das offenbar davon abgeleitete Liebeskummer-Drama „Helfe kann dir keiner“ in trauter Eintracht. Wunderbar. Nach „Paar Daach fröher“ entfaltet dann das zeitlose „Do kanns zaubre“ (ebenso lautstark mitgesungen) wieder seine ganze Magie, die auch darin liegt, dass die Darbietung ebenso schlicht und wirkungsvoll ist. Und Anna ist sowieso Gold wert. Jetzt folgt allerdings der einzige Ausrutscher des Abends: warum der Meister sich mit allerlei schrägen Gestalten im Kommerzfernsehen tummelt und probiert, wie andere seine Song singen, das muss man ja nicht verstehen. Aber dass er jetzt diese Seltsamkeit zum Anlass nimmt, auch noch eben das zu tun und ein Stück des von Urban Priol wunderbar passend so titulierten Seierers aus Mannheim, dem Meister der Mütze Naidoo, zu bringen, bleibt komplett rätselhaft, auch wenn dazu der Münchner Lokalmatador Martin Kälberer dazu auf die Bühne kommt. Wir vergessen das schnell, denn dafür gibt es jetzt das Lied, das nach meinem bescheidenen Dafürhalten den besten deutschsprachigen Text aller Zeiten aufweist. „Kristallnaach“ war seinerzeit eines der ersten BAP-Stücke, die ich staunend vernahm, und bis heute ist der Song unbeschreiblich in seinem gespenstischen Beginn, der langsamen Steigerung und dem Crescendo der Warnung vor einer Haltung, die irgendwie unausrottbar scheint. Und niemand sonst schafft es, in einem Rocksong ein apokalyptisches Bild der Dimension „In der Kirch mit der Franz Kafka Uhr, ohne Zeiger, mit Striche drop nur, liest en Blinde em Taube Struwwelpeter für, hinter dreifach verriegelter Tür“ vollkommen schlüssig einzufügen. Ein Geniestreich für die Ewigkeit. Kurz danach führt der Mega-Hit „Verdamp lang her“ zur kollektiven Begeisterungsstürmen, mich ärgert wie immer, dass der Songs allzu oft zur Partyhymne verkommt, was dem melancholischen Text in keinster Weise gerecht wird, aber dennoch – ihr Hit sei ihnen gegönnt, und das Lied kann auch nach all den Jahren immer noch alles. Und ist älter als der Drummer.
Nun beginnt der Zugabenblock, der Zeiger auf der Uhr wandert langsam aber sicher über die 3-Stunden-Marke – was der Boss vor ein paar Tagen im Olympiastadion ablieferte, das will man anscheinend auch hier versuchen, kein Wunder, die beiden Herren kennen sich ja schließlich persönlich. Handgemachte Rockmusik hat eben dauerhafte Qualitäten, „Alexandra nit nur do“ kracht ordentlich, und irgendwann stellt Herr Niedecken dann fest, üblicherweise müsse man ja jetzt wieder kurz verschwinden, aber das lassen sie jetzt mal, immerhin müsse man verpflichtend fertig werden hier irgendwann, also geht es ohne Pause weiter. Und das ist auch gut so, denn jetzt erzählt er uns, Anfang der 80er habe man ja in der Stammkneipe gewohnt, und morgens kamen dann aus dem benachbarten Männerheim die Gestrandeten auf eine Zigarette, einen Kaffee oder auch mal ein Bier, und einer davon sei ihm im Gedächtnis geblieben, der über seinen Schoßhund in raspelnder Stimme feststellte: „Der beste Freund des Mannes ist der Schäferhund!“ Da sei die Inspiration gewesen für die eingangs witzige, dann todtraurige Weise vom Penner Jupp, der mit seiner Einkaufstasche herumläuft und sich froh erzählt, über seine (samt und sonders erfundenen) Abenteuer, die er sich erträumt hat, weil er die Erinnerung an Stalingrad nicht erträgt. Das, kombiniert mit einem klassisch angehauchten Intro – ja, der Major fehlt manchmal, die Gitarre ist nicht ganz so charakteristisch, schneidend, akkurat, aber wir klagen nicht, das ist halt so – und der wunderbar-getragenen balladesken Stimmung macht dieses Stück zu ihrem, auch wenn er das ja nicht sagen wollte, greatest. Ever. Zeitlos und groß. Jetzt kommen sie alle nach vorne an den Bühnenrand, Herr Niedecken erzählt ein bisschen davon, was die einzelnen genannten Personen und Fahrzeuge in „Et letzte Leed“ zu bedeuten haben (der LKW war seine alte Kasten-Ente), sie bringen es dar, und Schluss. Auf der Uhr stehen 3 Stunden 20 Minuten. Eine berauschende Gesamtleistung mit einem durch und durch sympathischen Original, der nie seinen Scharfsinn verloren hat, seine musikalische Begabung sowieso nicht, und der eine weitere Qualität gefunden hat: einen warmen, zutiefst menschlichen Humor. Besser wird es hierzulande nicht.