Der Orwell mit der Sonnenbrille: Geoff Tate ruft zur Revolution
/08.11.2023 - Backstage München
35 Jahre „Operation: Mindcrime“ – auch wenn das natürlich ein Versehen sein muss (das war doch erst 1988, also vor kurzem), sind wir natürlich dabei, wenn Sangesmeister Geoff Tate das Gesamtwerk – und noch eine Dreingabe – zum Besten gibt. Es gilt immer noch: Revolution Calling!
Gemeinhin gilt die „Operation: Mindcrime“-Scheibe, die Queensryche Ende der 80er auf eine nichtsahnende Welt losließen, zu Recht als Meilenstein des Proto-Prog-Metal, als für den Metal damals völlig ungewöhnliches „echtes“ Konzeptalbum, das eine höchst anspruchsvolle, komplexe Handlung (später mehr) mit meisterhaftem Songwriting verband und so zum nie mehr erreichten Highlight des Schaffens der Kollegen aus Seattle wurde. Der Rünch-Stern sank spätestens nach Abgang des Masterminds Chris de Garmo 1997 zusehends, und nach handgreiflichen Auseinandersetzungen ging auch Geoff Tate ab 2012 getrennte Wege von seinen ehemaligen Kollegen. Nach diversen Rechtstreitigkeiten und Kuriositäten (wie etwa das kurzfristig erstrittene Recht, als „Geoff Tate – Formely of Queensryche“ zu firmieren) einigte man sich darauf, dass die Restband mit neuem Shouter unter der Flagge Queensryche fährt und der gute Geoff im Gegenzug die beiden “Mindcrime”-Werke live darbieten darf, ohne einen Bezug zu seiner alten Kombo herzustellen. Summa summarum: eine reichlich verfahrene Situation, die erklärt, warum die letzten Auftritte, die man noch gemeinsam absolvierte, einen eher gelangweilten und feixenden Tate zeigten, der lieber auf dem Saxofon dudelte als den motivierten Fronter zu machen.
Sei’s drum, Tates Darbietungen der frühen Rünch-Alben erweisen sich von anderem Kaliber, so schon zu bestaunen bei seiner Komplett-Aufführung des „Rage For Order“-Albums vergangenes Jahr – umso gespannter sind wir nun auf die vollständige Inszenierung des ewigwährenden Geniestreichs. Vor unserem Wohnzimmer Backstage stapeln sich Automobile und Leute, was wohl daran liegt, das im Werk eine launige Kombo namens „Von wegen Lisbeth“ (ich muss auch mehrmals nachfragen) ihren lustigen deutschsprachigen Radiopoprock zum Besten gibt. Wir wandern unentwegt Richtung Halle, die im hinteren Bereich sehr ordentlich gefüllt ist, vorne allerdings kurioserweise noch etwas Luft bietet, wobei die erste Reihe mit einem fast schon metall-untypischen Publikum bestückt ist, das eher dem ZDF Fernsehgarten als der heutigen Ansetzung entsprungen scheint.
Die Opener von Darker Half legen sich bereits ordentlich ins Zeug und kredenzen eine durchaus gekonnt servierte Mischung aus Metal Church, Savatage und, ähem, eben Queensryche, die mit Stücken wie „Falling“ oder dem brandneuen „If only you knew“ durchaus zu gefallen weiß. Die vier weitgereisten Kollegen aus Sydney zeigen sich dabei spielfreudig, ausgestattet mit ordentlich geputztem Schuhwerk (Slippers!) und definitiv nicht gecastet: der technisch raffinierte Shouter/Gitarrero Vo Simpson tritt stilsicher in zerzaustem Piratenmantel und natürlichem Aussehen auf. Musikalisch geht alles in beste Ordnung, nach ca. 30 Minuten verabschieden sich die Jungs von der dunklen Hälfte nach einem krachigen „Breaking the Law“-Cover (wozu Crowdpsychologe Sebbes feststellt: „so erreicht man das Publikum!“), gefolgt von „Heaven’s Falling“. Wir danken und harren der Dinge, die nun noch kommen.
Umzubauen ist nicht viel, ein großes „Operation: Mindcrime“-Backdrop hing die ganze Zeit im Hintergrund, links geziert von Dr. X und rechts verunstaltet von einem Totenkopf, der irgendwie so gar nicht zum Thema passt, aber egal – offenbar darf der gute Geoff zumindest den Originalschriftzug des Plattencovers verwenden. Nachdem wir mehrmals darauf verwiesen haben, dass die Sportschau heute zwar nicht kommt, wir aber zumindest vielleicht noch das Ende der Tagesthemen sehen wollen, geht es um 21.15 los mit dem atmosphärischen Intro „I Remember Now“ (ihr wisst schon, „sweet dreams, you bastard“), das ins Instrumental „Anarchy X“ übergeht: der gute Mann hat die gesamte Instrumentalfraktion aus jungen Recken rekrutiert, die ihre Sache durchaus solide erledigen – inklusive einem Gitarrero, der mit Hut, aufgeknöpftem Hemd und weißen Stiefeletten einen durchaus achtbaren Chris de Garmo-Lookalike abgibt. Mit „Revolution Calling“ schwenken wir dann endgültig ins Geschehen ein – und auf die Bühne schlendert der Sänger und selfmade-Weinhersteller (dessen Rebensaft treffenderweise als „Insania“ firmiert), heute mal ohne Hut, dafür mit Ketten, Tüchern, einem tätowierten Hinterkopf und vor allem einer durchaus massiven Sonnenbrille, die nicht unbedingt aufgrund des gleißenden Sonnenlichtes in der Halle gewählt sein dürfte.
Um die entscheidende Frage gleich zu beantworten: vokalistisch geht alles in beste Ordnung, die extremen Töne umschifft er geschickt, aber nicht aufdringlich, irgendwelche Konserven-Hilfen können wir nicht ausmachen – und so steht der ungetrübten Freude an der Darbietung des Meisterstreichs nichts mehr im Wege. Die Menge ist mittlerweile auch vorne beachtlich angewachsen und zeigt sich in jedem Stück so textsicher, wie man das bei dem vorgetragenen anspruchsvollen Material auch erwarten darf: “Mindcrime” ist eben keine Partymusik, sondern eine Einheit aus höchst melodischem, bisweilen positiv sperrigen, immer zündendem musikalischen Teppich und der sich langsam ausbreitenden Geschichte von einem, der einem Scharlatan zum Opfer fällt. Ohne viel Federlesens schwingt sich Geoff mit seiner Mannschaft durchs Geschehen, der Titeltrack und das galoppierende „Speak“ werden treffsicher abgefeuert, und wir ertappen uns dabei, dass uns die gesamte Genialität nochmals intensiver aufgeht. Dass man hier eine dystopische Welt entfaltet, die in Anspielung auf George Orwells „1984“ benannt (dort nennt sich ein drakonisch zu ahndendes Vergehen „mindcrime“, also der schiere Gedanke an abweichlerische Ideen) herbe Kritik am USA der ausgehenden 80er übt, das hatten wir ja damals schon verstanden, politische Ränkespiele, Fernsehprediger, jaja.
Auch, dass eine verirrte Seele vom gewissenlosen selbsternannten Revolutionsführer Dr. X rekrutiert und dann schamlos für höchst eigene Interessen missbraucht wird, check, kapiert. Aber dass man hier in einer unerhörten Hellsicht die absichtliche Lancierung von Verschwörungstheorien thematisiert, die von unerhörter und brandgefährlicher Aktualität sind – „die da oben“ paktieren ohnehin, sind alle korrupt, da müssen wir jetzt mal draufschlagen -, das ist nicht minder faszinierend als die Tatsache, dass man die Demagogik eines gewissen ehemaligen US-Präsidenten um Jahre vorwegnahm: „I used to trust the media to tell me the truth, but now I see the payoff everywhere I look – who do you trust when everyone’s a crook?“ Präziser kann man einen Donald Trumpf und seine Wortwahl kaum treffen. Brillant. Einstweilen fährt der Zug weiter über das absolut geniale „Spreading the Disease“, zu dem Geoff, wie schon bei anderen Songs, eine durchaus szenische Inszenierung des Geschehens mit vielsagenden Gesten und Bewegungen liefert, ganz wie weiland in Balingen, als man beim Bang Your Head eine monumentale Gesamtaufführung mit theatralischen Qualitäten abfeuerte. Nach dem elegischen „The Mission“ betritt zum nun folgenden Schlüsselstück eine weitere Protagonistin die Bretter: zur epischen „Suite Sister Mary“ entert eine standesgemäß in (pseudo)-Nonnenkluft gewandete Holde die Bühne, die die weiblichen Gesangsparts virtuos meistert und sich mit Geoff ein szenisch treffendes Zusammenspiel liefert. Wunderbar! Jetzt wendet sich der Maestro erstmals (!) an uns – mit einem samtigen „How are you tonight?“ vergewissert er sich unseres Wohlbefindens, wobei wir das einzige Manko an diesem Abend konstatieren müssen: wer ein solch wohlklingendes Sprechtimbre sein Eigen nennt, der könnte uns doch gerne ein wenig mehr erzählen zwischen den Stücken, genügend Geschichten sollte er ja haben. Aber da ist halt immer noch das mit den Tagesthemen, die er wohl auch noch sehen will, deshalb nichts wie weiter mit den restlichen Geniestreichen der Scheibe, die mit „I Don’t Believe In Love“ und dem wieder am Anfang landenden Schlusspunkt „Eyes Of A Stranger“ am Start sind, wobei die Kombo das Intro „Anarchy X“ gleich nochmal bringt – wir enden da, wo alles begann.
Ganz groß! Kurz halten wir inne, dann kommt er – natürlich – nochmal vorbei und serviert uns einen Zugabenblock, der schon alleine bemerkenswert genug wäre. Der mächtige Brecher „Empire“ vom gleichnamigen Nachfolgealbum, der letzten Großtat aus dem Hause Rünch, wird frenetisch abgefeiert (und wir sinnieren wieder über die textliche Botschaft über Innenstädte, die der Herrschaft von Clans und Banden anheimfallen – wieder richtig prophezeit, das ist fast unheimlich), bevor dann „One Foot in Hell“ vom unnötigen Nachschlag „Operation: Mindcrime 2“ von 2006 zeigt, wie krass der Qualitätsabfall seit den 90er Jahren tatsächlich war. „Völliger Unfug“, quittiert Genrekenner Sebbes gewohnt nuancenreich, aber mit einer durchaus gekonnten Darbietung der groovigen „Jet City Woman“ und ihres nach wie vor größten Hits „Silent Lucidity“ (das wir wohl leider nie mehr in der hingebungsvollen Interpretation von Chris de Garmo himself erleben werden) ist dieser einzige Schwachpunkt schnell vergessen. Wir verabschieden uns erneut, allerdings nur kurz – „what do you want to hear? Everything?“, amüsiert sich Geoff, der nun mit „Take Hold of the Flame“ sogar den Brückenschlag zum „Warning“-Album hinbekommt. Jetzt ist dann aber bald wirklich Schluss, wie der rosarote Panther sagte, aber nicht, bevor wir mit einem dahinpreschenden „Queen of the Reich“ (unvergleichlich das damalige Haarspray-getränkte Video, ein Produkt, das bei Geoff mittlerweile funktionslos wäre) furios hinauskomplimentiert werden. Auch hier gilt: nicht jede Spitze sitzt, das erwarten wir auch gar nicht, aber wir honorieren eine energiegeladene, blitzsaubere und vor allem auch nach dem Hauptset immer noch mit Juwelen gespickte Darbietung, die sich mehr als gelohnt hat. Und das mit den Tagesthemen hat auch fast noch funktioniert.