Die Rückkehr der Spandex-Hose: Grave Digger feiern 35. Geburtstag - und die 80er
/Backstage, 27.12.2015
35 Jahre Bandjubiläum – das ist amtlich, das können nicht gerade viele vorweisen, und deshalb nimmt das „Olle Bolle“ Chris Boltendahl mehr als gerne zum Anlass für eine ganz besondere, kleine Konzertrundreise. Exakt für sechs Ansetzungen feiert er mit uns einen 80s Birthday Bash, in dem – nomen est omen – vor allem die seligen Anfangstage der Formation zu Ehren kommen sollen, die mit Ausnahme der unverzichtbaren Klassiker heutzutage auf dem Speisezettel nur noch selten anzutreffen sind. Passend dazu haben die Herren mit dem letzten Album Exhumation die größten Perlen der ersten Alben in neuem Soundgewand eingespielt und dabei auch so manche Überraschung aus der Reaper-Kutte geschüttelt (unsere Schwesterpostille heavyhardes berichtete http://www.heavyhardes.de/review-9766.html). Wir lassen es uns somit natürlich nicht nehmen, der wilden Geburtstagsparty beizuwohnen, zu der die Schaufler kurz nach Weihnachten ins Backstage einladen – und schon beim Einlass vor der Halle wird klar, dass wir heute einen Themenabend zu bestaunen haben. Eine solche Ansammlung von engen Beinkleidern, Kutten und Nieten gibt es eigentlich kaum noch zu bewundern, umso lauschiger also, dass manch einer die alte Uniform ausgepackt hat und sogar auch einige junge Gesichter in der Menge zu sehen sind.
Zuerst gilt es allerdings den Anheizer zu bestaunen, und nachdem die eigentlich angekündigten Recken von Motorjesus aufgrund einer Verletzung des Gitarristen passen mussten, stürmen um Schlag 8 die österreichischen Garage Days die Bühne. Der Sound wird durchaus passabel angerührt, und an Begeisterung fehlt es Shouter, Gitarrist und Cheffe Marco Kern ganz bestimmt nicht. Riffing und Struktur stehen eindeutig unter dem Stern der Hochphase des klassischen Metalsounds, und Songs wie „Never Give Up“, „Lord Of Darkness“ und das abschließende „Piece Of Shit“ zeigen zweifelsohne gute Ideen und technische Finesse.
Insgesamt will der Funke aber nur zögerlich überspringen, Meister Kerns Vocals sind eher gewöhnungsbedürftig, und ob eine österreichische Kombo in München ausschließlich englische Ansagen machen soll, das lassen wir mal so stehen. Nach 35 Minuten haben die Herrschaften einen Achtungserfolg erzielt, der ihnen gegönnt sei.
Jetzt aber gibt es ein sehr klassisches Grave Digger-Set up zu bestaunen, mit traditionell bebildertem Drumkit und ebensolchem Backdrop. Schließlich gibt es heute eine Zeitreise zu bestaunen in die Periode, als es noch keine Clans, Titanen oder überhaupt Reaper gab, sondern Hexenjäger, Metall-Zusammenbrüche und Kriegsspiele. Und vor allem aggressives Riffing, High Speed Drums und das unverwechselbare Organ von Meister Boltendahl. Vorfreude ist also angesagt - da springen sie (nach einer etwas befremdlichen Ansage, dass wir unsere Handies jetzt in Flugmodus schalten sollen – ok, machen wir…) auch schon hervor, und hossa, was ein Anblick: alle vier Streiter haben sich in Outfits der aller truesten Schule geschmissen, von einer Steve Harris-Gedächtnis-Streifenhose über kunstvoll bestickte Kutten bis hin zu zerfetzten, vage an eine Weste erinnernden Leibchen.
Los geht es – erste Wette gewonnen – gleich mit einem famosen „Headbanging Man“, und sogleich ist Stimmung in der Bude. Der Sound drückt ordentlich, Bolle ist stimmlich bestens aufgelegt, und die ganze Truppe hat sichtlich Spaß an den Stücken und dem dazugehörigen Mummenschanz. Da lässt es sich Bolle auch gefallen, dass ihn ein angeheiterter Schlachtenbummler in der ersten Reihe wiederholt als „geile Sau“ abfeiert, und nach einer kurzen Vorrede, man werde heute abend in die 80er fahren und dabei auch „das eine oder andere Anekdötchen“ zu erzählen wissen, geht es mit „Witch Hunter“ gleich wieder in die Vollen. Das macht Freude, Chris schwenkt seinen kurzen Mikroständer wie zu besten Zeiten, und im Gegensatz zum Gig bei Live Aus Dem Alabama sind dieses Mal die Gitarren auch punktgenau gestimmt (das klappte bei diesem Song in der Fernsehaufzeichnung anno 1985 weniger gut – wir haben es im Interview wieder humoristisch erläutert…).
Als erste lustige Geschichte gibt Bolle jetzt zum besten, dass man 1996 das damals aktuelle Tunes Of War-Album in England promotet habe, mit an Bord der Journalist einer „vormals bekannten“ Branchenpostille, den man auf der Balustrade auch erspähen kann. In Dover in einer finsteren Hafenspelunke habe man das Halbfinale der EM verfolgt (das auch ich in England anschauen durfte und nach der Halbzeit mucksmäuschenstill war, um mich ja nicht als Teutone zu offenbaren, das wäre brandgefährlich geworden, weil die Herren um Sir Gascoigne ja nicht unbedingt graziöse Verlierer waren), und nach dem unvermeidlichen Sieg von Berties Elf wusste der Schreiberling nichts besseres, als ein frohgemutes „Drop the bomb!“ auszurufen. Wie man diesem Vorfall entrann, lässt er offen, aber speziell für diesen „Freund der Band“ setzt es jetzt „Enola Gay“. Ebenfalls launig berichtet Bolle dann, bei der Gesangsaufnahme für den nächsten Song habe er drei Flaschen Wein geleert und sei dem Gitarristen anschließend aus der Studiotür in die Arme gefallen (zur Ehrenrettung sei gesagt, dass der Meister seit 15 Jahren abstinent ist – „könnte ich heute nicht mehr“, kommentiert er die Ausschweifungen der Jugend fröhlich). Heute braucht er keinerlei Alkoholisierung, um „Shoot Her Down“ schmissig rüberzubringen, ein Stück, was damals auf der ersten Demo zu finden war. Schneller Blick auf die Formation, haben wir ganz vergessen: Basser Jens Becker agiert überzeugend und eher im Hintergrund, während Gitarrero Axel Ritt mit einer gestreiften Axt post wie ein Großer und dabei seinen eindrucksvollen Körperbau durchaus selbstironisch zur Schau stellt. Gute Laune allenthalben, und die fördert Bolle weiter mit seinem nächsten Geschichtsausflug: das vierte Album „Stronger Than Ever“ wurde bekanntlich zum großen Debakel der Band, und als Grund führt er unumwunden an: „wir waren jung und brauchten das Geld!“ Von den Produzenten wurde eingeflüstert, man wolle doch in den USA erfolgreich sein? Ja, klar. Man wolle doch reich und berühmt werden? Aber sicher doch! Na, dann müssen man sich umbenennen, nur noch Digger, das sei besser. Und dann dürfe das nicht mehr so Metal klingen, sondern nach Bon Jovi und Van Halen. Gesagt, getan, vergeigt: bei den wenigen Live-Auftritten, die noch folgten, wurden die Jungs mit zerrissenen Grave Digger-Plattencovern beworfen, und es war für lange Zeit Schicht im Schacht. Dennoch gehört auch diese Scheibe zur Band, und deshalb bringen sie jetzt ein Stück davon, allerdings so arrangiert, „wie es Grave Digger spielen würden“: „Stand Up And Rock“ überzeugt denn auch mit Double Bass und hartem Riffing. So ist die Jugendsünde gerne vergeben, zumal wenn man so offensiv damit umgeht.
Mit „Here I Stand“ und dem Speed-Kracher „Get Away“ geht es weiter im Text, und zu „Paradise“ von der dritten Scheiblette „War Games“ hören wir dann, dass man ein unsägliches Promotion-Foto aufgenommen habe – „die haben uns stark geschminkt, schwarze Lippen und so weiter, der Fotograf meinte dann immer nur das sieht man auf dem Bild dann nicht. Man sieht es. Wir sehen aus wie eine billige Rocky Horror Picture Show. Das hat uns lange verfolgt…“ Dann geht es zur Prämierung des besten 80er-Gedächtnis-Outfits, zu dem man auf der Website aufgerufen hatte – ahhh, deshalb also die ganzen Originial-Trachten! Damit haben wir das jetzt auch verstanden. Nach „We Wanna Rock You“ und einem mit einem bedächtigen Ende versehenen „Fire In Your Eyes“ darf dann endlich der auftauchen, nach dem schon den ganzen Abend vehement verlangt wird: der Reaper thront hinter dem Keyboard, als mit „Yesterday“ die wilde Halbballade vom Erstling angestimmt wird. Der Cheffe verabschiedet sich schon einmal prophylaktisch, aber eine Nummer darf natürlich nicht fehlen – und der „Heavy Metal Breakdown“ setzt dann einen furiosen Schlusspunkt unter die 80er-Sause.
Aber nach Hause wollen wir eigentlich noch lange nicht – da trifft es sich gut, dass die Herrschaften nach kurzer Zeit wieder erscheinen: allerdings nicht mehr in Spandex und Kutte, sondern Jeans und T-Shirt, wie man das heutzutage so trägt. Damit ist klar – die 80er-Show ist zu Ende, wir dürfen uns noch über einige Darreichungen neueren Datums freuen. Dieser Reigen wird eröffnet von einem mächtigen „The Reaper“, dem sich ein ebenso fulminantes „Excalibur“ anschließt. Der direkte Kontrast zwischen den eher kurzen, rabiaten Geschossen der Anfangstage und den ausgefeilteren Konzeptwerken, mit denen man Mitte der 90er Furore machte, zeigt sich dann bei „Tattooed Rider“ (mit massivem „Turbo“-Feeling) und vor allem dem Live-Klassiker „Highland Farewell“.
Aber eine Nummer fehlt noch, so erklärt uns der Meister, und „wehe ich sehe jetzt noch eine Hand unten!“ Na, da wollen wir mal nicht negativ auffallen, zumal „Rebellion“ erstklassig rüberkommt, auch wenn die verschiedentlich geforderten Schottenröckchen leider nicht im Angebot sind heute Abend. Freunde, das ist eine Art der Geburtstagsfeier, die wir gerne mitmachen – wir sehen uns dann spätestens beim 40er wieder…oder wohl eher früher.